Multimedia-Reportagen: Innovation oder Ablenkungsmanöver?
Multimedia-Reportagen sind eine spannende neue Darstellungsform, um Geschichten im Internet zu erzählen. Doch was steckt eigentlich dahinter? „Journalismus und PR“-Student und checkit-Redakteur Raffael Reithofer ist dieser Frage in seiner Bachelor-Arbeit nachgegangen und gibt an dieser Stelle einen kleinen Einblick.
Als die New York Times im Dezember 2012 eine Multimedia-Reportage namens „Snow Fall“ veröffentlichte, ging ein regelrechter Ruck durch die internationale Medienlandschaft. Kaum ein Journalist, kaum eine Journalistin kommen an dieser opulenten – in Text, Video und Grafik erzählten – Reportage über ein Lawinenunglück in den USA vorbei. Die Geschichte wird in den Himmel gelobt, manche sprechen sogar von der Zukunft des Journalismus (und übertreiben damit natürlich). Andere kritisieren, dass die Kombination verschiedener Medien voneinander ablenke und zulasten des Inhalts gehe.
Wenn heute jemand aus der Medienbranche „Snow Fall“ sagt, spricht er oder sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vom Lawinenunglück. Denn der Begriff hat sich inzwischen zu einer Metapher für multimediales Storytelling entwickelt. Bei der New York Times sogar zu einem Verb: „To ‘snow fall’ a story“.
Vorbild für deutschsprachige Medien
Auch deutschsprachige Journalistinnen und Journalisten sind von Snow Fall begeistert. So fragt man sich beim WDR: „Woah toll, warum können wir so was nicht?“, wie Online-Redaktionsleiter Michael Kaes im Interview erzählt. Auch beim „Standard“ bzw. bei derstandard.at in Wien ist man fasziniert.
Aus diesem Wunsch heraus basteln beide Medien an eigenen Multimedia-Reportagen. Ein Jahr nach Snow Fall, im Dezember 2013, entsteht beim WDR eine intuitive Software namens Pageflow (deren Quellcode übrigens der Öffentlichkeit frei zur Verfügung steht), mit der alle Redakteurinnen und Redakteure eigene Multimedia-Reportagen bauen können. Beim Standard entsteht unter Federführung des Datenjournalisten Florian Gossy (inzwischen beim stern in Hamburg), im April 2014 zunächst eine von Hand programmierte Reportage darüber, dass Austria Salzburg 20 Jahre zuvor als erste und einzige österreichische Mannschaft das UEFA-Cup-Finale erreicht hat. Danach entwickelt Gossy mit seinen Kollegen auch beim Standard ein Reportage-Tool fürs redaktionsinterne Content-Management-System. Zahlreiche weitere Medien im deutschsprachigen Raum veröffentlichen seit 2013 eigene Multimedia-Reportagen.
Der Inhalt zählt
Fragt man die verantwortlichen Redakteure nach den Beweggründen für Multimedia-Reportagen, weisen sie vor allem auf den Fortschritt der technischen Möglichkeiten und das Zusammenwachsen der einzelnen Medien im Web – die sogenannte Medienkonvergenz – hin. So sagt Kaes im Interview, es gebe „verstärkt den Wunsch, dass wir Programm machen, das sich ausrichtet an Themen, an Inhalten und nicht so sehr daran, ob man was fürs Fernsehen macht, fürs Radio oder fürs Web. Da sind natürlich die Multimedia-Reportagen eine gute Möglichkeit, das alles zu verschmelzen“. Rainer Schüller, stellvertretender Chefredakteur des Standard, findet die Erzählform spannend, „weil man die Vorteile des Onlinejournalismus ausnutzt und (…) man die Sprache verwenden kann, die man nur (…) online kann“.
Im Idealfall bestimmt der Inhalt bei Multimedia-Reportagen die Auswahl der Medien. Werden allerdings zu viele multimediale Elemente verwendet und willkürlich miteinander kombiniert, besteht sehr wohl die Gefahr der Ablenkung. Außerdem lässt sich nicht jedes Thema multimedial umsetzen. Einen philosophischen Vortrag von Konrad Paul Liessmann packt man etwa wohl besser in einen spannenden Text. Zudem hängt es auch von den Vorlieben der Leserinnen und Leser ab, ob Multimedia-Reportagen gut ankommen oder nicht.
Kenne also deine Zielgruppe!
Das Wichtigste an einer Geschichte ist jedenfalls auch in Zeiten der Medienkonvergenz immer noch der Inhalt. Wenn dieser – sorgfältig recherchiert – es wert ist, ausführlich erzählt zu werden und entsprechendes Material hergibt, kann es spannend sein, die Geschichte als Multimedia-Reportage zu erzählen. Ist dies allerdings nicht der Fall, hilft auch die beste Gestaltung nicht viel.
RAFFAEL REITHOFER studiert „Journalismus und PR“ an der FH JOANNEUM in Graz. Auf Wunsch schickt er Ihnen seine Bachelor-Arbeit zum Thema „Mehr als nur ein Hype? Beweggründe für Multimedia-Reportagen am Beispiel von WDR und derstandard.at“ gerne kostenlos zu: raffael.reithofer (at) gmx.at.
Foto: Tom Ensing
Beitragsbild: Sakonboon Sansri/Shutterstock
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