No „Need for touch“? Warum wir einander im besten Sinne berühren sollten
Wie haptische Informationen unser Verhalten und unseren Konsum beeinflussen und wie bildhafte Sprache Erlebnisse in unser Gehirn pflanzen: Der Buchtitel „Touch“ ist durchaus als Aufforderung zu „begreifen“.
Wie wichtig unser Tastsinn in der Mediennutzung ist, haben wir in unserem Blog „Lies Print, dann spürst du mehr“ bereits ausgeführt. Dass der Haptik-Effekt jedoch für unser ganzes Verhalten und daher selbstverständlich auch für unser Kaufverhalten sehr wesentlich ist, wollen wir diesmal nach Olaf Hartmann und Sebastian Haupt erläutern. Ihr Buch „Touch! Der Haptik-Effekt im multisensorischen Marketing“ beeindruckt mit klaren Fakten rund um dieses Thema und lässt eine Menge praktischer Rückschlüsse auf das Geschäftsleben zu.
In der Folge möchte ich versuchen, ein paar Punkte, die auch Ihnen nützlich sein könnten, aus der Fülle der spannenden Fakten aus dem Buch zu erläutern.
Menschen berühren
Sicherlich lesen Sie sofort die Doppelbedeutung. Wir lassen uns von Filmen, Texten, von Musik berühren – und selbstverständlich im doppelten Sinne von Menschen. Dass zwischenmenschliche Berührung für uns lebenswichtig ist, haben wir bereits in dem oben angesprochenen Blog ausgeführt. Aber beeinflusst es unser Verhalten – wenn wir zum Beispiel von Wildfremden berührt werden? Es gibt doch Menschen, die tunlichst Abstand zu anderen halten und es als sehr unangenehm empfinden, wenn man ihnen im wahrsten Sinne „zu nahe“ tritt. So ist es wohl: Wir haben alle einen unterschiedlichen „Need for touch“ (NFT). Aber: Wie auch immer dieser NFT ausgeprägt ist, immer beeinflusst er unser (Kauf-)Verhalten. Berührt eine Kellnerin einen Gast wie zufällig und nebenbei, erhält sie immer deutlich mehr Trinkgeld als ohne Berührung (Midas-Effekt). Berührung ist der Kitt zwischen Menschen – sie führt zur Bildung von Oxytocin (Bindungshormon) und Dopamin (Glückshormon). Wir können gar nicht anders, unser Autopilot reagiert darauf und es wird uns nicht einmal bewusst. Kundinnen und Kunden werden durch eine dezente Berühung außerdem ehrlicher, hilfsbereiter, konsumfreudiger und geben mehr Geld aus. („Touch!“, S. 75).
Gut zu wissen: Je alltäglicher die Berührung ist, desto weniger wirkt der Midas-Effekt. Wenn wir Kundschaft mit einem üblichen Handschlag begrüßen, ist das freundlich, aber nicht so wirkungsvoll, wie wenn wir dabei mit unserer linken Hand auch noch den Arm unseres Gegenübers berühren. Voraussetzung ist natürlich, dass es authentisch ist – ein/e Verkäufer/in mit niedrigem „Need for touch“ und einer distanzierten Ausstrahlung wird eine solch herzliche Geste lernen können, aber nicht spürbar „echt“ transportieren.
Gewichtige Argumente
Sie wollen mit Unterlagen einen positiven Eindruck hinterlassen? Heften Sie Ihre Bewerbung oder auch Ihr Angebot für den Kunden in eine richtig schwere Mappe, klemmen Sie die Informationen auf eine Unterlage mit Gewicht. Denn was schwer ist, wird als bedeutsamer, wichtiger wahrgenommen. Diesem Eindruck kann sich niemand entziehen („Touch!“, S. 70).
Wenn Sie nun Ihren Diätplan trotzdem partout nicht über Bord werfen wollen, können Hartmann und Haupt auch hier Unterstützung anbieten: Wer aus schwerem Geschirr isst – also zum Beispiel das Frühstücksmüsli aus einer schweren, irdenen Schale – fühlt sich satter und das Gericht wird als schmackhafter wahrgenommen, als wenn wir es aus einer leichten Schachtel zu uns nehmen würden. Wenn Sie also das nächste Mal aus irgendeinem „Schachtelrestaurant“ Fertigessen mit nach Hause nehmen, laden Sie es tunlichst auf schwere Teller. Möglicherweise vermag das den ernährungstechnischen Schaden ein wenig zu begrenzen. ;-)
Fühlen Sie die Frische
Wer ein angreifbares Produkt anbietet, tut sich dank des Haptik-Effekts leichter, Kundinnen und Kunden zu erreichen, als jemand, der zum Beispiel Versicherungen verkauft. Ein Supermarkt, der mit einem simplen Täfelchen bei den Obst- und Gemüseregalen dazu aufforderte, die Waren anzugreifen („Fühlen Sie die Frische!“) erlebte eine 40%-Steigerung bei der Impulskaufrate. Wenn wir etwas angreifen, steigt unser Besitzwunsch und es entsteht ein Besitzgefühl. Das steigert zudem noch den wahrgenommenen Wert! Das brechen Hartmann und Haupt auf die einfache Formel „Mehr Berührung, mehr Umsatz“ herunter („Touch!“, S. 71) und: „Einmal berührt ist halb gekauft.“ („Touch!“, S. 90) .
Das funktioniert sogar, wenn wir nur die Abbildung eines Produkts angreifen – am Tablet oder am Smartphone zum Beispiel. Tatsache ist, dass wir eher kaufen, wenn wir mit dem Finger „das Produkt berühren“, als wenn wir mit der Mousetaste draufklicken. Also Vorsicht beim nächsten Online-Einkauf.
Versichern beruhigt
Was tun nun all jene, die Versicherungen verkaufen? Hier gibt es mehrere Möglichkeiten. Da unsere Vorstellungskraft ganz wunderbar ausgeprägt ist, sollte man die künftige Kundschaft dazu animieren sich vorzustellen, das Produkt zu besitzen (oder auch zu berühren – wenn möglich). Wenn wir also beim Beispiel Versicherungen bleiben: Stell dir vor, wie du dich mit Versicherung fühlen wirst – beruhigt vielleicht?! Kein Wunder, dass der uralte Slogan „Versichern beruhigt“ sich in unser Gehirn geradezu eingebrannt hat.
Sie sind Versicherungsmakler und Ihre möglicherweise zukünftige Kundin hat einen Termin vereinbart? Sorgen Sie dafür, dass sie weich sitzt, also möglichst auf einem gepolsterten Sessel oder Sofa Platz nimmt und versorgen Sie sie mit einem warmen Getränk (in einer Tasse – kein Becher! Siehe oben). Wer weich sitzt, urteilt milder, ist positiver gestimmt, freundlicher und entgegenkommender. Ein warmes Getränk lässt uns ebenfalls „schmelzen“ und die Härte in Vertragsverhandlungen bekommt plötzlich abgerundete Kanten.
Sie sitzen sich gegenüber – auf weichen Polstern mit warmem Getränk in der Hand – und plaudern als Eisbrecher … zum Beispiel über das Wetter? Egal, worum es geht, eine positive Stimmung, die gute Laune macht, macht auch kauffreudiger. Vielleicht erscheint Ihnen das ohnehin glasklar und logisch? Oder Sie meinen, ein ausgefuchster Makler, der mit Kaffee Latte, Kuschelpolsterung und freundlichen Nasenlöchern bei Ihnen ankommt, beeindrucke Sie in keinster Weise, weil Sie nur offen für die Fakten und das Geschäftliche sind? Vergessen Sie’s. In uns allen schlummert ein top-ausgebildeter Autopilot, der uns gar nicht fragt, was die Vernunft zu den Makler-Argumenten sagt. Der Autopilot steuert einfach und lässt uns danach glauben, unsere Vernunft hätte entschieden.
Schenkst du mir, so schuld ich dir
Was war das letzte Haptical, das Sie bekommen haben? Mit Sicherheit haben Sie im Laufe Ihres Lebens schon eine Menge gesammelt. Hapticals sind „kommunikativ wirksame Objekte“ („Touch!“, S. 133) wie zum Beispiel der Kugelschreiber, den Sie vom Versicherungsmakler geschenkt bekommen. Bekommen wir etwas geschenkt, löst das in uns etwas aus, das Hartmann und Haupt „kosmische Schuld“ („Touch!“, S. 135) nennen. In eindeutig esoterischen Kreisen wird die Folgehandlung „Energieausgleich“ genannt – Sie haben das Bedürfnis, etwas zurückzugeben. Seien Sie versichert, von guten Geschäftsleuten bekommen Sie immer die Chance dazu.
Wer aber nun glaubt, dass es jederzeit ein schnöder Kuli sein darf, der dann zu 100% wirkt, sollte weiterlesen: Ein Haptical wirkt dann, wenn das Objekt zum Produkt passt. Dann leistet es aber überzeugend viel: „Haptische Medien erhöhen die Beziehungsqualität [Geschenk!], den Response [es erinnert an das Produkt], den Abverkauf und sie prägen die Markenwahrnehmung.“ („Touch!“, S. 135)
Der „Tu-Effekt“
„Wer sich bewegt, berührt die Welt, und wer ruht, den berührt sie; deswegen müssen wir immer bereit sein, zu berühren oder berührt zu werden.“
Johann Wolfgang von Goethe
Was wir tun, bleibt uns in Erinnerung, lässt uns lernen, hinterlässt Eindruck. Deshalb sind Marketing-Maßnahmen, die uns zum Tun auffordern (z. B. ein Bastelbogen) oder uns zumindest ein Tun suggerieren, goldrichtig. Sicher ist Ihnen schon aufgefallen, dass es eine Menge Tutorials auf Youtube gibt, die aus der Nutzerperspektive gefilmt sind. Belegt ist auch, dass wir auf Fotos stärker reagieren, die sich der Nutzerperspektive bedienen. Wir sehen also Hände, die unsere sein könnten. Dabei ist auch zu beachten, dass es sogar wichtig ist, den Henkel eines Kaffeehäferls auf die „richtige“, also rechte, Seite zu drehen. Rechtshänder/innen sind nun mal in der Mehrzahl. Und so wird sich die Mehrzahl in einem solchen Bild wiederfinden. („Touch!“, S. 128) Da Sehen „vorausschauendes Berühren“ (S. 143) ist, werden wir uns bald nach dem heißen Getränk im Häferl sehnen. Selbstverständlich müssen die gezeigten Objekte haptisch einladend sein – genauso wie die realen.
Texten und fühlen
Was sagt uns Textmenschen das alles? Dass wir einpacken können mit unseren schönen Worten? Ganz sicher nicht! Denn während wir lesen, handeln wir mental mit („Touch!“, S. 147 ff.). Wenn wir mit einem Text das Kopfkino anstarten, ist alles im grünen Bereich: Während wir lesen, hören, sehen, riechen und fühlen wir den Textinhalt. Wir alle kennen die Wirkung eines guten Texts – der uns ganz in eine Geschichte hineinziehen kann, uns zu (mit-)fühlenden Protagonisten werden lässt, uns wütend macht, zum Weinen bringt, vor Sehnsucht schmelzen und vor Angst und Horror erstarren und frieren lässt. Wenn ein Text auf unserer Seelenklaviatur spielt und möglichst alle Sinne anspricht, dann „berührt“ auch er uns wirklich.
CLAUDIA RIEF-TAUCHER
Olaf Hartmann/Sebastian Haupt: Touch! Der Haptik-Effekt im multisensorischen Marketing. Haufe, 2. Auflage 2016
Beitragsbild: AndreyPopov/Shutterstock
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